Dissonanzen. Eine neue Form der Netzliteratur

Von Odile Endres

 

"Solange wir Liebe und Wissen voneinander trennen, die Liebe zu einer Folge des Wissens und das Wissen zu einem Resultat der Liebe machen, haben wir sie in Wahrheit noch nicht begriffen. Wissen ist Liebe und Liebe ist Wissen."

Nishida Kitaro, Über das Gute

 

Die "Dissonanzen" sind ein kollaboratives künstlerisch-literarisches Netz-Projekt (mit Regula Erni), das auf mehreren Ebenen stattfindet. Einerseits arbeitet das Projekt an einer neuen künstlerischen Form, andererseits bietet es poetische Perspektiven auf Welt und Universum, auf die technologischen Entwicklungen und deren Einfluss auf Individuum und Gesellschaft. Theoretische Reflexion ist Teil des künstlerischen Schaffensprozesses. Ging es bei dem vorhergehenden Gemeinschaftswerk "Warbytes" um eine spontane literarisch-künstlerische Bearbeitung des Themas Irakkrieg, so wagen die "Dissonanzen" sich in neue Dimensionen vor: Die Begegnung von Wissen und Liebe, die Verbindung von Naturwissenschaft und Poesie im gemeinsamen Werk zweier unterschiedlicher AutorInnen ermöglichen neue Weisen der Erkenntnis und Bewusstseinsbildung.

Die "Dissonanzen" vertreten andere Ordnungen als die der Mengenlehre und der technologischen Rationalität, ohne Vernunft und Logik aufzugeben. Ein poetischer, assoziativer Zugang zur Realität - mit vielstimmigem Text, Flash, Ton, Bewegung - eröffnet ungewöhnliche Blickwinkel. Prozesshaftigkeit kennzeichnet sowohl das Werk als auch die begleitenden Diskurse.

Diskurs und Vernetzung

Ein grundlegendes Prinzip von Netzliteratur-Projekten ist die Vernetzung. Sie wird durch die Internet-Technologie ermöglicht, aber erst durch die Aktivität der partizipierenden Netz-NutzerInnen (Netizens) realisiert. Im Internet sind auf diese Weise viele Netzwerke entstanden und damit neue Kunstformen wie Netzliteratur und Netzkunst. Die "Dissonanzen" verstehen sich als Teil dieser Entwicklung.

Der kommunikative Prozess ist integraler Bestandteil der literarischen Netzkunst. Austausch und Reflexion begleiten die künstlerische Produktion. Die Arbeit jeder Netzautorin ist eingebettet in eine Vielzahl von Vernetzungsaktivitäten. Aus individuellen werden so kollektive AutorInnen.

Netzliterarische Projekte, so auch die "Dissonanzen", sind als Work in Progress zu charakterisieren, in dessen Schaffensprozess verschiedene Diskurse integriert sind: ein künstlerisch-reflexiver Diskurs zwischen den AutorInnen, ein Werk-Produktions-Diskurs, der neben der Diskussion produktionstechnischer Fragestellungen vor allem gesellschaftliche Diskurse zu wissenschaftlichen und philosophischen Themenstellungen aufgreift, und nicht zuletzt der Netzdiskurs der Internet-Community (vgl. auch das Projekt "Warbytes" als Bestandteil des Netzkunstprojekts "Wartime"). Die Gesamtheit der Diskurse ist als Subtext impliziter Teil des manifesten Werks.

Der thematische Werk-Diskurs

Dieser Diskurs greift aktuelle Fragestellungen des gesellschaftlichen Wissens-Diskurses auf und produziert neue. Die "Dissonanzen" stellen auf poetische Weise Fragen: Fragen nach unserer Identität, nach dem Ursprung der Sprache, nach der Entstehung des Universums. Fragen der Beziehung zwischen Irdischem und Kosmischem, zwischen Liebe und Wissen. Fragen nach den Folgen der technologischen Entwicklung. Wie werden wir darauf reagieren? Werden wir ganz und gar digital werden? Werden wir uns als Elektronen den Drähten entlang durch den Cyberspace bewegen und ganz und gar neue Sinne entwickeln? Was haben Cherubim und Halbleiter gemeinsam? Gibt es Zusammenhänge zwischen irdischen und planetarischen Konstellationen? Was ist auf der Rückseite der schwarzen Löcher zu finden? Welche Impulse bringt die String-Theorie für die Netz-Literatur? Was verbindet Poesie und Wissenschaft? Hilft uns der Zauber einer Walpurgisnacht beim Verständnis des Urknalls? Können wir uns zu den Engeln beamen? Wann werden wir endlich fliegen?

Diese Fragen führen zur komplexen Verknüpfung von Wissenschaft, poetischer oder essayhafter Reflexion und narrativen Sequenzen. Gedanken des kommunikativen Austauschs werden umgesetzt in sprachliche Fragmente und Miniaturen, in Bilder, Töne und Animationen; erzählerische Fäden werden gesponnen. Filigrane Hyperraumtexte eröffnen überraschende Verbindungen und geben ungewohnte Antworten. Zwischen Raumzeit und Menschenzeit werfen die "Dissonanzen" einen Blick auf die Dinge, die hinter dem Ereignishorizont stattfinden, sei es das Schicksal schwarzer Löcher oder die Poesie der Dendriten der Sterne. Sie suchen den Zauber der Dinge.

Der künstlerisch-reflexive Diskurs

Die Kommunikation während des Arbeitsprozesses diskutiert methodische Fragen des Genres, den Entwurf einer neuen Ästhetik, die kreative Nutzung der vorhandenen Software-Technologien. Wie ist Netzliteratur innerhalb der Medienkunst einzuordnen? Welche Ausdrucksmittel stehen der Netzliteratur zur Verfügung und wie nutzen wir sie für die Kunst? Mit welchem Konzept lässt sich das Prinzip der Vernetzung innerhalb des konkreten Kunstwerks umsetzen?

Der die "Dissonanzen" begleitende kritische Diskurs hinterfragt klassische und neue narrative Techniken und damit verbundene Themen wie Linearität, Rolle von AutorIn und LeserIn, individuelles versus kollektives Schreiben, Interdependenz von Form und Inhalt, Erzähl-Funktionen von Klang und Bild, Definition von Text, Zusammenspiel von Schrift, Klang, Programmierung und Graphik. Daraus entwickeln die "Dissonanzen" ein neues Erzählmodell und realisieren eigene Vorstellungen und Konzepte.

Dissonantes Erzählen

Das dissonante Erzählen ist polydimensional. Es bringt verschiedene Stile, Sprach-, Bild- und Tonspuren sowie Reflexionen zu wissenschaftlichen Themen und poetische Prosa zueinander und verbindet sich zu einem komplexen Werk, das sich als dissonant-kohärent bezeichnen lässt. Der innere Zusammenhang entsteht aus der kommunikativen und technologischen Vernetzung, die man als Tiefenstruktur des netzliterarischen Werks bezeichnen könnte. Das dissonante Erzählen realisiert ein Konzept der Verknüpfung und des Verlinkens, das mit neuen, netzspezifischen Kohäsionsmitteln arbeitet. In Anlehnung an die Stringtheorie begegnen sich die Welt der Liebe und die des Wissens in 26 Cyberstring-Dimensionen. 

Text wird als die Gesamtheit aller Ausdrucksmittel gesehen: Sprache, Sound, Graphik, Flash-Animation, Programmierung, Design und vor allem das netzliterarische Zusammenspiel dieser Mittel. Erzählen auf vielen Ebenen. Netz und Literatur werden somit zum nicht-linearen Kunstwerk und die LeserInnen zu Kunst-BetrachterInnen.

Damit verändert sich auch die Rolle der LeserInnen. Die "Dissonanzen" setzen aktive LeserInnen voraus, denen es die Möglichkeit gibt, ihr Leseverhalten selbst zu bestimmen und autonom eigene Zusammenhänge herzustellen. Die "Dissonanzen" machen Angebote, die Ausgangspunkt für die Imagination der BetrachterInnen und deren Assoziationen sein können. Die Gestalt des Projekts ist fließend und im Kopf der LeserInnen entstehen immer neue Verbindungen und Konstellationen. Überraschende Verknüpfungen führen vielleicht zu erstaunlichen Einsichten. Denken in 26 Dimensionen.


© Odile Endres - Letzte Änderung: 04.01.2005


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