An einem Morgen aus Eisbeeren

© Odile Endres, 2005 

 

Es war an einem Morgen aus Eisbeeren und Sternenstaub, als ich ihn zum letzten Mal sah. Nicht, dass er gestorben wäre. Aber für mich: als ob.

Der See blaugrau, die Ufer dunkel, nur weit oben auf den Berggipfeln helles Leuchten. Nicht einmal geküsst hat er mich, als er auf’s Schiff ging. Nicht einmal umgedreht hat er sich. Nicht einmal zum Abschied gegrüßt.

So ein Morgen war das, als er für immer ging. Ganz anders als der Mittag, an dem ich ihm wieder begegnet war zum zweiten Mal. Rot haben die Rosen unter den Fächerpalmen geglüht & die Gräser haben in der Brise getanzt & die grüne Saat hat in der Sonne gefunkelt & der Wind hat von den Bergen herunter geweht und alles in eine solche Klarheit getaucht, dass es geschmerzt hat: die grünen Bergkuppen am andern Ufer & die glitzernde Fläche des Sees & jedes einzelne Blatt der Pappeln & Ulmen & die letzten Blüten der Azaleen. An so einem Tag bin ich ihm wiederbegegnet, an so einem Tag bin ich ihm nicht wiederbegegnet & ich wäre vielleicht wieder glücklich geworden, wenn er alleine gekommen wäre.

Abends dann haben die Gräser nicht mehr getanzt. Da haben weder See noch Blätter geglänzt. Abends, da hat er es mir gesagt.

Er hat nicht gelächelt

wie damals, an jenem Sommerabend. Damals, als wir am See spazieren gingen, als wir miteinander im warmen Wind gegangen sind, da rauschten die Zweige der Weiden. Da brachte sein Lächeln mein Blut zum Blühen. Am Ufer gegenüber lag noch Licht über den Bergen, in zartem Abendblau der Himmel, die Berge schon dunkel, fast schwarz die Flanken, noch klar zu sehen die Grate, allmählich nachtblau der Himmel & da wo die Berglinien abfielen in weichem Schwung, wo sie zusammenkamen im sanften Sattel, genau da stand der Abendstern mit seinem tröstlichen Licht & dahinter leuchtete der Himmel & da schimmerten die Kämme mit denen die Dämmerung ihr Haar hochsteckte & der See flüsterte am Strand & weit war das Wasser & warm der Wind & voller Klarheit das Herz, weil von jenseits der Berge eine große Ruhe auf uns zuströmte & mich erfüllte durch & durch & ich wusste, dass ich den einen liebte & den andern & dass ich keinem etwas wegnahm dadurch & dass es im Leben doch möglich sein sollte, auch von beiden geliebt zu werden. Und von dem einen sofort.

Wir sind dann hinaufgestiegen an jenem Abend

er und ich

auf eine Wiese am Hang und ich habe niemals vergessen

dort oben im Mondlicht

ich habe nie vergessen wie ich nicht weglief diesmal wie ich jede Scheu vergaß wie es gleichgültig war dass sein Haar grau wie es nicht zählte dass sein Gesicht voller Falten wie nur noch

unsere Haut so weiß

wie nur noch unser Verlangen

oder war es nur meines

wie nur noch die Lust wie wir alles vergaßen

 

Später in der Nacht haben überall am andern Ufer die Lichter gefunkelt & am Himmel Millionen von Sternen & der Wind hat in den Palmen gesungen & wir haben die Milchstraße gesehen & am liebsten wäre ich da hinauf & doch nicht da hinauf gegangen, denn in mir war eine wilde Hoffnung plötzlich, dass doch noch alle Wünsche wahr würden oder schon wahr geworden waren und gleichzeitig wusste ich, dass nur dieser Augenblick zählte & dass ich mehr an Glück nicht bekommen würde.

Später in der Nacht öffnete ich die Fenster für die Lichter & die Milchstraße & wer weiß dachte ich vielleicht würde sich diese Nacht ein Engel zu mir verrirren, der mich in süßen Schlaf wiegen würde, endlich einmal, in dieser schwarzblauen, in dieser sternglänzenden Nacht.

 

Natürlich ist dann kein Milchstraßenengel gekommen & ich habe so schlecht geschlafen wie sonst auch, seit das Unglaubliche geschehen ist. An einem lauen Maiabend, von dem ich nichts erwartet hatte. Außer ein paar guten Gedichten. So fing es an damals. Eine Nacht der Poesie war es. Es geschah, als ich einem französischen Dichter zuhörte; er hechelte seinen eigenen Versen hinterher. Auf einmal: Als habe mich jemand gerufen, blickte ich auf. Da stand er in der Tür. Mit diesem Sternenblick. Ich sah nur noch ihn. Der Saal war ausgeblendet. Der französische Dichter unhörbar. Mein Herz flatterte

fast augenblicklich.

Später, als er auf der Bühne stand und las: Seine Stimme war rauh wie Schmirgelpapier. Mit jeder Silbe rieb sie ein paar Moleküle von meinen Herzwänden. Bis es ungeschützt offen lag das, bis jedes Wort mich mitten hineintraf ins: Herz. Und danach, als er mich küsste, mitten im Gespräch einfach küsste. Ich habe damals nicht gleich verstanden, was mit mir passierte

in Lichtgeschwindigkeit

Ich habe ihn nur zurückgeküsst, ohne zu wissen, was ich tat

im Bruchteil einer Sekunde

und dann bin ich weggegangen ich muss wahnsinnig gewesen sein.

 

Nie werde ich demjenigen verzeihen, der mir seine Adresse vier Wochen lang verschwieg. Niemandem habe ich etwas gesagt. Auch meinem Mann nicht, der im Ausland arbeitete zu der Zeit. Niemandem, weil es zu verrückt war. Niemandem. Außer ihm. Ich habe nicht mehr geschlafen damals. Ich lebte in einem Sehnsuchts-Kokon. Ich schrieb mir die Finger wund.

Aber erst ein Jahr später haben wir uns wiedergesehen. Viele Briefe später zum ersten Mal wiedergesehen. An jenem Weidenabend am See, in jener hellen Milchstraßennacht. Und ein zweites Mal an jenem Rosen- und Fächerpalmentag. Kein drittes Mal. Weil er nicht allein gekommen war. Weil er mich nicht wirklich liebte. Weil mich noch ein anderer liebte. Weil der Wind das falsche Lied gesungen hat. Weil sie unwirklich war die Mondlichtumarmung. Weil über Nacht Schnee fiel auf den Bergen. Weil er eine andere liebte. Weil er mich vergessen hat. Weil er das Schiff nahm mit ihr an jenem Morgen aus Eisbeeren und Sternenstaub.

 

© Odile Endres, 1997