Die Falltür

© Odile Endres, 1999 
Teil 16 des Kurpfalz-Krimis. Mitgeschrieben haben u.a. mit Hubert Bär, Klaus Haag, Ingrid Noll, Norman Ohler. Alte Rechtschreibung.
Print:
Endres, O. (1999). Die Falltür. In: Klaus Haag, Barbara Mattes & Klaus Spindler (Hg.). Fichtners Erbe. Der Kurpfalz-Krimi. Teil 16. C&C Verlag, Speyer. S. 66-70.

Schluß, dachte Fichtner. Es mußte Schluß sein mit diesem Gleitflug zwischen Traum und Wachzustand. Er mußte aufhören, zwischen Einbildung und Wirklichkeit umherzuirren, wenn er die Situation in den Griff bekommen wollte.

Er beschloß, ab sofort keinen Alkohol mehr zu trinken. Auch wenn das gegen seine Gewohnheit war. Jawohl, er würde nichts mehr trinken und nichts mehr rauchen, vor allem wenn die Getränke und Zigaretten aus Uschis Hand kamen. Oder von sonst jemandem, der hier lebte. Auch der Hausmarke Rot würde er nicht mehr trauen.

Seine Verfassung jedenfalls war nicht mehr normal zu nennen. Er mußte sich am Riemen reißen, durfte sich nicht mehr in diesen Alptraum fallen lassen, der von anderen für ihn gesponnen wurde: von Sparkassendirektoren und Hühnerzüchtern, von Kohlenhändlern und Immobilienmaklern - und von Gemeinderätinnen. Uschi. Auch ihr konnte er nicht trauen. Er mußte seine erotischen Fantasien beiseite schieben, wenn er mit heiler Haut davonkommen wollte. Er mußte bei klarem Verstand sein, wenn der das Geheimnis dieses Ortes lüften wollte.

Sein Blick wanderte durch das Schlafzimmerfenster nach draußen. Ein Lichtglanz lag plötzlich auf den kahlen Büschen des Gartens. Die Wolkendecke mußte aufgerissen sein. Als Fichtners Blick auf den Walnußbaum fiel, wußte er plötzlich mit absoluter Klarheit, daß es kein Zufall war, daß genau dieser Baum eine traurige Last tragen mußte. Es war ein nicht zu übersehendes Zeichen. Eine deutliche Warnung: Wenn Du nicht sofort wieder von hier verschwindest, wirst auch DU so enden. An Deinem geerbten Walnußbaum - oder in den Tiefen Deines eigenen Kellers, wo Dich niemals jemand finden wird.

Nun mußte Fichtner doch wieder an die alptraumhaften Ereignisse der letzten Tage denken. Doch es interessierte ihn nicht, was real, was geträumt, was fantasiert war. Das war jetzt nicht wichtig. Er begriff, daß sich, unabhängig vom Wirklichkeitsgehalt, eine Botschaft darin verbergen konnte. Der Tunnel, der Mann in schwarzem Leder, der ihn einlud, tiefer ins Dunkel vorzudringen, das konnte sein Unbewußtes sein, das klüger war als seine wache Vernunft.

Fichtner versuchte, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, ohne abzudriften. Soviel war klar. Es war eine Reise in die Vergangenheit. Und auch wenn er nicht direkt von den Ereignissen betroffen war, so war es doch auch seine Vergangenheit, die deutsche Vergangenheit. Er hatte nie etwas damit zu tun haben wollen. Sie war eben, wie das Wort sagte, vergangen. Nicht relevant. Nicht für ihn, nicht für die Zeit, in der er lebte. Jetzt begriff er, daß er sich getäuscht hatte. Daß die Vergangenheit ihre Schatten warf. Auf die Gegenwart. In die Zukunft.

Als draußen ein Hahn krähte, fragte er sich, wie lebendig diese verfluchte Vergangenheit heute noch war, und ob sie sich unter dem Haus von Tante Nelly abspielte. Gab es dort wirklich einen Tunnel? Eine Kelleranlage, in der Unvorstellbares geschehen war?

Er dachte an den Traum von Uschi in ihrer BDM-Uniform, an diese undurchsichtige Frau, die ein arisches Kind mit ihm zeugen wollte. Verdammt nochmal, war da vielleicht was dran? Und was, wenn dort unten wirklich ein Labor gewesen war? Wenn dort ... sein Gehirn weigerte sich weiterzudenken. Es war zu grauenhaft. Aber er konnte nicht verhindern, daß das Bild des riesigen, schwarzschillernden Gockelkopfes, der Kamm leuchtete neonfarben, auftauchte, den er kurz nach Wiesholds Tod gesehen hatte.

War es denkbar, daß das gar kein verkleideter Mensch gewesen war, sondern ein ... ja, was ... das Ergebnis eines Experimentes?

Fichtner wurde schlecht. Doch er konnte die Assoziationslawine, die in seinem Kopf losgegangen war, nicht aufhalten. Die Bilder, die sich zusammenballten, waren grausam. Un-menschlich, und doch ... Fichtner spürte, wie kalter Schweiß aus seinen Poren trat. Sein Herz raste.

Er sprang auf, weil er die Flut der Bilder nicht mehr aushielt. Aber während er noch auf dem Weg zur Küche war, wo er sich einen starken Tee kochen wollte, fragte er sich, was die Hühner nebenan zu fressen bekamen. Das Wort Knochenmehl trieb neue Schweißperlen auf seine Stirn. Er versuchte, seine Gedanken zu bremsen, indem er Wasser aufsetzte, indem er im Küchenschrank nach Tee suchte, obwohl ihm Whisky lieber gewesen wäre, indem er Teekanne und Sieb bereitstellte, und indem er das saubere Spülbecken reinigte, während er darauf wartete, daß das Wasser kochte.

Gerade, als sein Puls sich nomalisierte, kam der Knall. Und zugleich fiel ein Schatten in den Raum. Sofort beschleunigte sich sein Herzschlag wieder, und er brauchte eine Weile, um zu begreifen, daß der Knall vom Fenster gekommen war. Er wagte nicht, sich zu rühren. Das Pfeifen des Wasserkessels brachte ihn wieder zur Besinnung. Er goß den Tee auf. Dann ging er vorsichtig zum Fenster. Er sah nichts außer den zarten Schatten, die die Büsche in der Wintersonne warfen. Dann öffnete Fichtner beherzt einen Fensterflügel. Da sah er, daß ein toter Rabe im Gras lag. Er mußte gegen die Scheibe geflogen sein. Oder hatte jemand den schwarzen Vogel umgebracht, und dann den toten Körper gegen die Scheibe geworfen? Schnell schloß Fichtner das Fenster. Er machte sich nicht die Mühe nachzuprüfen, ob der Vogel ohne Kopf und ohne Fuß war. Egal, er würde sich nicht davon beeindrucken lassen. Jetzt nicht mehr. Er würde dem Alptraum ein Ende bereiten. Nichts konnte ihn mehr von seinem Entschluß abbringen.

Als er dann endlich mit einer Tasse starkem, schwarzem Tee im Wohnzimmer saß, war der Schweiß auf seiner Haut getrocknet. Nicht, daß er sich besonders gut gefühlt hätte, aber er war jetzt ruhig. Was auch immer in der Vergangenheit geschehen war - oder jetzt noch geschah - es hatte mit Nelly und ihrem Haus zu tun. Er mußte sich wieder auf Nelly konzentrieren, sich nicht mehr vom Wesentlichen ablenken lassen.

Ob es wohl stimmte, was Irmgard über die Tante erzählt hatte? Er sah sie wieder vor sich, wie sie jeden Abend mit ihren Lockenwicklern dagesessen hatte - aber an Männer konnte er sich nicht erinnern. Vielleicht hatte sie damals auf ihn Rücksicht genommen, und während seines Aufenthalts eine Art Urlaub gemacht. Aber das waren unnütze Spekulationen. Er hatte nicht die Absicht, über sie zu urteilen. Was zählte, war die Sache mit den Nazis. Ob unter ihren regelmäßigen Besuchern auch Nazis waren. Und ob sie sich durch ihren Service an diesen Herren "nur" ihren Lebensunterhalt verdient hatte, oder ob sie, wie sein Labor-Uschi-Traum es ihm zu suggerieren schien - oder hatte Uschi es ihm wirklich eingeflüstert? - eine glühende Anhängerin des braunen Gedankenguts gewesen war.

Nein, das mochte und das konnte er sich nicht vorstellen. Seine Tante Nelly eine alte Nazibraut? Das Haus ein Hort grausamer Nazivergangenheit, den sie ausgerechnet ihm vererbt hatte? Unmöglich. Oder doch nicht?

Fichtner dachte an das Robinson-Zitat. Und dann kam ihm der erste vernünftige Gedanke an diesem einsamen Nachmittag. Vielleicht hatte Tante Nelly auf sein Talent als Journalist vertraut. Er hatte schließlich einen Beruf, auch wenn er das anscheinend in den letzten Tagen vergessen hatte. Aber nun war er hellwach. Nach dem Schrecken kam die Neugierde. Ihm wurde bewußt, daß der Auftrag, nach dem er sich vor ein paar Tagen gesehnt hatte, längst da war. Tante Nelly hatte ihn erteilt. Er wußte nur noch nicht genau, wie er lautete. Daß er die Wahrheit, welche es auch immer war, aufdecken und bekannt machen sollte?

Wieder grübelte er über Robinson, Seite 315, Zeile 16. Er brauchte das Buch nicht mehr aufzuschlagen, er wußte den Satz auswendig. Fichtner fragte sich, wer mit dem Schützling gemeint war. Etwa Tante Nelly? Und von wem war der Befehl gekommen, damals, die Toten zu begraben? Von Ehlers? Baader? Vom großen Unbekannten? Fichtner wollte nicht weiter darüber nachdenken. Er fürchtete den Ansturm neuer barbarischer Bilder.

Der Satz ließ sich auch noch anders interpretieren. Beerdigen nicht im Sinne des Verbergens von Verbrechen und Leichen, sondern Beerdigung im Sinne einer letzten Ruhe. Es bestand die Möglichkeit, daß die Gegenwart und damit er selbst gemeint war. Vielleicht hatte Tante Nelly ihn, ihren Neffen, damit beauftragt, die Rolle von Freitag zu übernehmen, um den Toten endlich ihren Frieden zu geben? Es konnte durchaus auch symbolisch gemeint sein. Und das konnte in einem gewissen Sinne das Gegenteil von Beerdigen bedeuten. Das Verborgene aufdecken, die Opfer zumindest aus dem Kerker des Vergessens zu befreien.

Aber würde die Wahrheit nicht auch Nelly mit in ihren schmutzigen Sog reißen? War es doch möglich, daß sie mit den Nazis unter einer Decke steckte? Oder war sie über ihren Beruf - sofern ihm Irmgard die Wahrheit gesagt hatte und wenn es eine Wahrheit überhaupt gab - in diese Kreise geraten, wußte etwas, für dessen Verschweigen sie jemand mit Geld bezahlte? Oder bezahlt hatte, damals, nach dem Krieg. Wie hätte sie sonst das Haus bauen können? Wovon hätte sie gelebt? Was war die Wahrheit, verdammt nochmal?

Tante Nelly. Die Frau mit den warmen Augen. Plötzlich fühlte er sich von Zuneigung zu seiner toten Tante überflutet. Wenn Sie ihm ein Geheimnis anvertrauen wollte, dann konnte es nichts sein, was einen Schatten auf sie selbst warf. Oder? Sonst hätte sie versucht, es vor ihm zu verbergen. Und er durfte eines nicht vergessen, sie hatte Angst gehabt. Vor wem? Fichtner dachte an seinen Traum vom abgebrannten Haus, an den Bankdirektor, an Baader, die ihm das Grundstück abluchsen wollten. Da hatte er wahrscheinlich schlicht und einfach die Wahrheit geträumt. Aber das war nicht das Geheimnis, das es aufzudecken galt.

Das raue Krächzen eines Raben riß ihn aus seinen Gedanken. Es ging inzwischen auf vier Uhr zu. Der letzte Glanz der winterlichen Sonne lag über dem Garten, ein leichtes Violett färbte die Luft, und Fichtner glaubte plötzlich, daß alles auch anders sein könnte. Tante Nelly hatte selbst gar kein dunkles Geheimnis, sie hütete es für einen anderen. Wer weiß, vielleicht hatte sie einen der Männer, die zu ihr kamen, wirklich geliebt? Vielleicht war nicht nur Geld die Motivation, dieses Geheimnis zu bewahren?

Doch im Grunde war auch dies jetzt gleichgültig. Was zählte, war, daß das Morden aufhörte. Was zählte, war sein Auftrag. Er wußte jetzt, was er zu tun hatte. Und darüber vergaß er seine Angst.

Ohne zu zögern ging er zu seinem Wagen in die Garage, um sein Laptop und das Modem aus dem Kofferraum zu holen. Er hatte sein Arbeitsgerät viel zu lange nicht benutzt. Nachdem er sich noch einen Tee gemacht hatte, setzte er sich mit der dampfenden Tasse ans Laptop. Und dann konnte ihn nichts mehr bremsen. Er hatte lange genug nachgedacht, die Worte flossen wie von selbst aus seinem Kopf in seine Finger in die Tasten. Die Ereignisse der letzten Tage, Namen und Beschreibung der Personen, Tante Nellys Briefe und Notizen, das Robinson-Zitat. Auch seine Vermutungen notierte Fichtner.

Draußen fiel die Dunkelheit über den Garten wie ein schwarzer Schwarm von Raben, die Zweige der Bäume zitterten im kalten Wind, ein Schatten umstrich das Haus. Und Fichtner schrieb. Als er fertig war, installierte er das Modem.

Dann hielt er inne, überlegte einen Augenblick, ob er im Internet nach Dokumenten zur Nazi-Vergangenheit suchen sollte. Vielleicht fand er etwas darüber, was in der Gegend von Nellys Haus passiert war. Oder er fand etwas über gegenwärtige Aktivitäten. Doch er entschied sich dagegen, die Zeit schien ihm zu kostbar. Er brauchte Beweise, und die fand er nicht im virtuellen Raum. Die waren hier, im Keller.

Doch bevor er sich auf die Suche machte, startete er sein email-Programm. Er wählte "New Message" und tippte eine Nachricht an Mila, eine Redakteurin, mit der er befreundet war. Sie arbeitete bei einer großen Wochenzeitung. Und war deshalb genau die Frau, die er jetzt brauchte. Er erklärte ihr die Lage. Verriet ihr, daß er der Story seines Lebens auf der Spur war. Schrieb, daß er den Zugang zum Keller suchen würde. Und daß sie, falls er sich in 12 Stunden nicht wieder melden würde, die Polizei rufen solle. Und daß sie in diesem Fall die Reportage veröffentlichen solle, die er ihr als Attachment mitmaile. Unter seinem Namen. Und daß er sich auf sie verlasse.

Fichtner atmete tief durch, als er fertig war. Er stellte die mail in die Warteschlange und richtete das Programm so ein, daß es in zwölf Stunden automatisch abfragen würde, ob neue Post da war. Und damit automatisch die mail in der Warteschlange abschicken würde. Falls er bis dahin nicht zurück war.

Daß er den Zugang zum Keller dann sehr schnell fand, lag daran, daß er Hunger hatte. Er ging in die Speisekammer. Dort fand er in einem Regal glänzende Reihen von Gläsern. Eingelegte Zucchini hatte Tante Nelly auf die Etiketten geschrieben, saure Gurken, süß-saurer Kürbis. Und neben dem Regal stand ein großes Faß, aus dem der verführerische Duft von Sauerkraut stieg.

Weil Fichtner sehen wollte, ob der Duft hielt, was er versprach, und weil das Faß in einer dunklen Ecke stand, zog er es unter das Licht der Deckenlampe. Und da sah er die Falltür.

© Odile Endres, 1994